Wohin, wofür, weshalb ?

Gerald Hüther, Wohin, wofür, weshalb? Über die Bedeutung innerer Leitbilder für die Hirnentwicklung. In: Pädagogisches Handeln, Heft 2, 2002.

Wohin, wofür, weshalb ?

Über die Bedeutung innerer Leitbilder für die Hirnentwicklung

Die lange Zeit aufrecht erhaltene und bis heute vorgenommene Trennung zwischen der Hirnentwicklung und der Entwicklung des Verhaltens, Denkens und Fühlens, ja selbst des Gedächtnisses, hat sich inzwischen ebenso als Irrtum erwiesen wie die Vorstellung, dass der Prozess der strukturellen Ausreifung des menschlichen Gehirns gegen Ende des 3. Lebensjahres weitgehend abgeschlossen sei. Inzwischen ist deutlich geworden, wie eng die Entwicklung dieser Funktionen an die Ausformung und Reifung cerebraler Strukturen gebunden ist. Um diese Strukturen ausbilden zu können, suchen und brauchen bereits Neugeborene die lebendige Interaktion mit andern Menschen. Die bereits intrauterin entstandenen neuronalen Verknüpfungen bilden nur ein vorläufiges Muster für einen noch Kontext- und Nutzungs-abhängig herauszuformenden späteren Zustand. Durch neue Wahrnehmungen werden die dabei synchron aktivierten neuronalen Netzwerke miteinander verknüpft. Immer dann, wenn später die gleichen neuronalen Netze erneut aktiviert werden, kommt es zum „Wiedererkennen“ der betreffenden Wahrnehmung.

Erst in den letzten 10 Jahren ist es den Hirnforschern und Entwicklungspsychologen vor allem mit Hilfe der sog. bildgebenden Verfahren gelungen nachzuweisen, welch nachhaltigen Einfluss frühe Bindungserfahrungen darauf haben, wie und wofür ein Kind sein Gehirn benutzt, und welche Verschaltungen zwischen den Milliarden Nervenzellen deshalb besonders gut gebahnt und stabilisiert und welche nur unzureichend entwickelt und ausgeformt werden (Gebauer und Hüther, 2001). Diese Erkenntnis beginnt sich jetzt erst allmählich unter Kinderärzten, Psychiatern und Erziehern auszubreiten. Bis sie in allen Schichten der Bevölkerung und bei allen Eltern angekommen ist, werden wohl noch Jahre vergehen.

Nicht viel anders verhält es sich mit der zweiten wichtigen Erkenntnis, die sich zwangsläufig aus der Tatsache ergibt, dass die frühkindlichen Bindungen nur der erste Schritt eines langen und komplizierten Sozialisationsprozesses sind. Im Verlauf dieses Prozesses lernt jedes Kind, sein Gehirn auf eine bestimmte Weise zu benutzen, indem es dazu angehalten, ermutigt oder auch gezwungen wird, bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten stärker zu entwickeln als andere, auf bestimmte Dinge stärker zu achten als auf andere, bestimmte Gefühle eher zuzulassen als andere, also sein Gehirn allmählich so zu benutzen, dass es sich damit in der Gemeinschaft, in die es hineinwächst, zurechtfindet. In unterschiedlichen Kulturen aufwachsende Kinder erwerben dabei z.T. sehr unterschiedliche kulturell tradierte Fähigkeiten. Die Kinder der Eingeborenen des amazonischen Regenwaldes lernen auf diese Weise bis zu einhundert verschiedene Grüntöne zu unterscheiden und die der Inuit im nördlichen Polarkreis ein Dutzend verschiedene Formen von Schnee auseinanderzuhalten. Auch unsere Kinder erwerben im Verlauf dieses Prozesse all jene Fähigkeiten und Fertigkeiten, auf die es eben für das Leben in unserem Kulturkreis ganz besonders ankommt. Und indem sie das tun, werden auch die dabei immer wieder aktivierten neuronalen Verschaltungen stärker und intensiver benutzt, ausgebaut und entwickelt.

Alles, was auf diese Weise erst im Verlauf der ersten Lebensjahre gelernt werden muss, wird von anderen Menschen übernommen. Keine dieser kulturspezifischen Leistungen ist angeboren. Alles, worauf wir später stolz sind, was uns als Persönlichkeit ausmacht, was wir wissen und können ebenso wie das, was wir denken und fühlen, ja sogar das, was wir wünschen und träumen und nicht zuletzt das, was wir als unsere Muttersprache bezeichnen, verdanken wir dem Umstand, dass es andere Menschen gab, die uns bei der Benutzung und Ausformung der für diese Leistungen erforderlichen Verschaltungsmuster in unserem Gehirn geholfen haben. Ohne sie hätten wir womöglich noch nicht einmal aufrecht zu gehen gelernt, wir wären nicht in der Lage, uns in einer bestimmten Sprache auszudrücken, wir wüssten nicht, was essbar und was giftig und gefährlich ist. Wir hätten weder Fahrradfahren noch irgendein anderes hierzulande alltägliches Gerät zu bedienen gelernt. Wir könnten nicht schreiben, lesen und rechnen, auch nicht musizieren, singen und tanzen. Dieses Zeitschriftenheft könnten wir noch nicht einmal zum Verfeuern benutzen, denn auch Feuer hätten wir nicht, und uns hätte auch niemand gezeigt, dass es möglich ist, die natürliche Angst davor zu überwinden. Wir wären der äußeren Welt und unseren inneren Antrieben hilflos ausgesetzt, wüssten nicht, worauf wir besonders zu achten haben, hätten nicht gelernt, all die vielen komplexen Bewegungsabläufe und feinmotorischen Handlungen zu steuern, die man nur von anderen Menschen lernen kann, und wir wären auch kaum in der Lage, irgendwelche in uns aufkommenden Impulse zu kontrollieren.

All das und noch vieles mehr muss jedes Kind im Verlauf eines schwierigen und daher auch sehr störanfälligen Prozesses erst erlernen. Dass das geschieht, erscheint uns so selbstverständlich, dass wir kaum je darüber nachdenken, was aus unserem Gehirn geworden wäre, wenn wir keine Gelegenheit bekommen hätten, uns all diese Fähigkeiten und Fertigkeiten im Verlauf unserer ersten Lebensjahre von anderen Menschen anzueignen. Es wäre ein Gehirn geworden, in dem all dass, was zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht fertig ausgereift ist, sich nicht so weiter entwickelt, organisiert und strukturiert hätte, wie das nun einmal geschehen ist. Ein solches Gehirn könnten wir deshalb auch heute nicht so benutzen, wie wir das nun einmal tun. All die hochkomplexen Verschaltungen, die nicht automatisch entstehen, sondern die nur dann herausgeformt und stabilisiert werden können, wenn sie auch immer wieder aktiviert und benutzt werden, wären ohne die vielen Anregungen und Ermunterungen, Maßregelungen und Ermahnungen, also ohne die aktive Einflussnahme anderer Menschen auf unsere Hirnentwicklung nicht entstanden. Unser Gehirn ist in viel stärkerem Maß, als wir bisher geglaubt haben durch diese anderen Menschen und all das, was diese wiederum von anderen Menschen übernommen haben, strukturiert worden.

Die Hirnregion, in der all diese komplexen, nutzungsabhängigen neuronalen Verschaltungen letztendlich zusammenlaufen, ist eine Region, die sich beim Menschen zuletzt und am langsamsten entwickelt, und die auch bei unseren nächsten tierischen Verwandten weitaus kümmerlicher ausgebildet ist. Anatomisch heißt sie Frontal- oder Stirnlappen. Es ist diejenige Hirnregion, die in besonderer Weise daran beteiligt ist, aus anderen Bereichen des Gehirns eintreffende Erregungsmuster zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, und auf diese Weise von „unten“, aus tieferliegenden und früher ausgereiften Hirnregionen eintreffende Erregungen und Impulse zu hemmen und zu steuern. Ohne Frontalhirn kann man keine zukunftsorientierten Handlungskonzepte und inneren Orientierungen entwickeln, kann man nichts planen, kann man die Folgen von Handlungen nicht abschätzen, kann man sich nicht in andere Menschen hineinversetzen und deren Gefühle teilen, auch kein Verantwortungsgefühl empfinden. Unser Frontalhirn ist die Hirnregion, in der wir uns am deutlichsten von allen Tieren unterscheiden. Und es ist die Hirnregion, die in besonderer Weise durch den Prozess strukturiert wird, den wir Erziehung und Sozialisation nennen.

Wie wenig wir über die Bedeutung nutzungsabhängiger Plastizität für die Hirnentwicklung wissen, wie rasch und wie unerwartet alte, bislang für richtig gehaltene Theorien ins Wanken geraten sind, machen neuere Untersuchungen über die mit bildgebenden Verfahren nachweisbaren entwicklungsabhängigen strukturellen Veränderungen des menschlichen Gehirns deutlich. Bei Kindern von 3 – 6 Jahren kommt es insbesondere in den frontocortikalen Hirnbereichen, die die Planung und Organisation von Handlungen sowie die Konzentrationsfähigkeit auf bestimmte Aufgaben steuern, zu einer deutlichen Volumenzunahme. Bei Jugendlichen von 6 – 12 Jahren läßt sich insbesondere eine verstärkte Ausformung und Vergrößerung in solchen cortikalen Regionen nachweisen, die eine besondere Bedeutung für räumliches Vorstellungsvermögen und abstraktes Denken besitzen. Kurz vor der Pubertät kommt es dann zu einer zweiten Phase des weiteren Ausbaus neuronaler Verschaltungen im frontalen Kortex, der erneut mit einer messbaren Volumenzunahme einhergeht. Eine weitere Umstrukturierungsphase beginnt nach der Pubertät. Was während dieser Phase geschieht, wird wesentlich von der Regel „use it, or lose it“ bestimmt.

Das alles heißt, dass nicht nur die frühe Kindheit, sondern die gesamte Jugendphase eine entscheidende Entwicklungsphase darstellt, in der das Gehirn durch die Art seiner Nutzung gewissermaßen „programmiert“ wird. Das Ausmaß und die Art der Vernetzung neuronaler Verschaltungen, insbesondere im frontalen Kortex, hängt also ganz entscheidend davon ab, womit sich Kinder und Jugendliche besonders intensiv beschäftigen, zu welcher Art der Benutzung ihres Gehirns sie im Verlauf des Erziehungs- und Sozialisationsprozesses angeregt werden. Konsequenterweise muss dann zumindest dieser Bereich des menschlichen Gehirns als soziales Produkt angesehen werden.

Diese hochkomplexen Verschaltungsmuster innerhalb des Frontalhirns, wie auch zwischen dem Frontalhirn und den anderen Bereichen der Hirnrinde und den tieferliegenden, sog. subkortikalen Netzwerken können nur dann ausgebildet werden, wenn Kindern bereits im Säuglingsalter vielfältige Gelegenheiten geboten bekommen, sich selbst und ihre Wirkungen auf andere Menschen wahrzunehmen. Die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung erwirbt ein Säugling zunächst durch passives Bewegtwerden, wie Schaukeln und Wiegen über die damit verbundene Stimulation seines Gleichgewichtsinnes. Bereits hier werden die ersten prägenden Erfahrungen über die Verlässlichkeit der Beziehung zu den Eltern gemacht. Im Schutz des so entstandenen Sicherheitsgefühls kann sich das Kind im weiteren Verlauf seiner Entwicklung immer weiter vorwagen und eigene Aktivitäten entwickeln: Kriechen, Krabbeln, Sitzen, Stehen, Laufen, Klettern, Springen, Balancieren sind Stationen dieser Welterkennung, die sich in ähnlicher Weise auch in anderen Bereichen (Fühlen, Sehen, Hören) vollzieht. Das wachsende Gefühl von Selbstwirksamkeit ermöglicht es dem Kind, sich allmählich aus der ursprünglichen Abhängigkeit von seinen primären Bezugspersonen zu lösen. Voraussetzung für diese Entwicklung sind sichere emotionale Beziehungen, die es dem Kind gestatten, sich immer weiter in eigene, selbst erkundete und selbst gestaltete Bereiche vorzuwagen.

Im Alter von 3 – 6 Jahren erbringen die Kinder eine ganz besondere Entwicklungsleistung. Bei Eintritt in den Kindergarten, mit etwa 3 Jahren, arbeiten sie noch intensiv an der Entwicklung ihres Ichbewusstseins. Sie lernen gerade, dass sie etwas anderes sind als die anderen. Zwei- bis Vierjährige entdecken, dass sie etwas wollen können und dass das etwas anderes sein kann, als ihre Eltern oder ihre Betreuer wollen. Ihren neu entdeckten Willen demonstrieren diese Kinder dann oft mit dem ganzen Körper und ihrer vollen Stimmkraft. Deshalb wird das Alter „Trotzalter“ genannt. Kinder in diesem Alter zu erziehen ist anstrengend. Die Kinder brauchen vernünftige Verbote, die sie  vor Gefahren, auch vor der Verfestigung eines hemmungslosen Egoismus schützen, ebenso wie den für ihre Aktivitäten erforderlichen Freiraum zur Selbstbestimmung. Für Erziehungsangebote, die ihnen Verhaltensalternativen aufzeigen, sind Kinder in diesem Alter aber auch noch besonders offen. Dass Eltern ihnen bestimmtes Verhalten erlauben, anderes verbieten, wird von ihnen um so leichter akzeptiert, je sicherer die emotionale Beziehung zwischen ihnen und ihren Eltern ist. Ein Kind liebevoll zu motivieren, es zu ermutigen, sich immer neuen Anforderungen zu stellen, es immer wieder mit neuen Aufgaben anzuregen, an denen es sich entwickeln kann, all das stellt höchste emotionale und intellektuelle Anforderungen an die Erziehenden.

Wenn die Eltern alle Probleme beiseite räumen, hindern sie ihre Kinder daran, die Erfahrung machen zu können, dass es möglich ist, Probleme mit Hilfe anderer (der Eltern) zu lösen. Kinder, denen diese wichtige Erfahrung vorenthalten wird, richten sich nur nach ihren eigenen Wünschen, Vorstellungen und Bedürfnissen. Sie bleiben selbstbezogen, trotzig, tyrannisch. Zur Bewältigung der altersentsprechenden Aufgaben fehlen ihnen wichtige Ichfunktionen wie Interesse und Aufmerksamkeit an der Lösung solcher Aufgaben. Ihr Ich ist zu dünnhäutig, überempfindsam und zu reizoffen. Oft fühlen sich diese Kinder überfordert, wenn sie in Kindergarten und Schule gezwungen sind, auf eine bestimmte Weise zu denken und zu handeln. Obwohl das Verhalten dieser Kinder äußerlich entwicklungsgerecht erscheinen mag, sind sie oft in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung auf der Stufe eines Kleinkindes stehengeblieben.

In fataler Weise unterstützt wird diese Entwicklung durch alles, was Kinder daran hindert, mit anderen Menschen in eine aktive Interaktion zu treten, ihre bisher erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erproben und weiterzuentwickeln. So geht es beispielsweise Kindern, die täglich viele Stunden vor einem Fernsehgerät zubringen. Zur Passivität verurteilt, werden sie  mit bunten Bildern, Handlungsfetzen, Aktionsbruchstücken und ständig neuen, emotional erregenden Eindrücken und angstauslösenden Vorstellungen in Erregung versetzt. Auf ihre Fragen bekommen sie keine Antworten, ihre Vorschläge hört niemand, sie können nichts ändern, nichts verhindern und auch nicht helfend eingreifen. Was in ihnen zurückbleibt, ist die Erfahrung, dass es auf ihr eigenes Denken und Handeln nicht ankommt, dass ihre selbständige Suche nach Lösungen nutzlos ist, dass das Geschen abläuft, ohne dass sie selbst darauf Einfluss nehmen können. Solche Kinder können nur schwer das Gefühl eigener Handlungskompetenz, eigener Gestaltungsfähigkeit und eigener Bedeutsamkeit entwickeln. Sie werden allzu leicht zu Konsumenten, die immer nur etwas von anderen haben wollen. Weil sie keine Gelegenheit hatten, sich selbst einzubringen, fehlt ihnen das Gefühl, dass sie anderen etwas geben können. Sie sind und bleiben damit allzuleicht allein, finden keine Freunde, können sich nicht in Beziehungen weiterentwickeln und sind ohne sichere emotionale Bindungen schutzlos ihren Ängsten ausgeliefert.

Unsicherheit und Angst stören die Integration und Organisation komplexer Wahrnehmungen und Reaktionsmuster. Sie zwingen das Kind zu raschen, eindeutigen Entscheidungen und damit zum Rückgriff auf ältere, bereits gebahnte Bewältigungsstrategien. Was unter diesen Bedingungen nicht stattfindet und auch nicht gelingen kann, ist eine über die bereits vorhandenen Möglichkeiten hinausgehende Fortentwicklung der eigenen Fähigkeit zur Integration, Bewertung und Filterung komplexer Wahrnehmungen. Ihre Wahrnehmungen können Kinder nur dann integrieren, wenn diese in einem zusammenhängenden Kontext erlebt werden. Neue Wahrnehmungen müssen an bereits vorhandene Erfahrungen anknüpfbar sein. Einen Zustand, bei dem zu viele Wahrnehmungen ungeordnet auf einen Menschen hereinprasseln, ist selbst für Erwachsene unerträglich, für Kinder erst recht. Er macht Angst und setzt gewissermaßen all das außer Kraft, was normalerweise vom Frontalhirn geleistet werden muss, aber angesichts des dort herrschenden Durcheinanders nicht geleistet werden kann (Hüther 1997).

Selbst Erwachsene reagieren unter solchen Bedingungen „kopflos“, beginnen hektisch umherzurennen oder sinnlos mit dem Bein zu wippen, können sich auf nichts mehr richtig konzentrieren, wissen nicht, womit sie eigentlich anfangen sollen, werden immer unzufriedener, bis sie sich womöglich gar in einem impulsiven Wutausbruch entladen. Und Kindern geht es mit ihrem noch sehr beschränkten Repertoire an eigenen Bewältigungsmöglichkeiten erst recht so. Vor allem dann, wenn keiner da ist, der ihnen hilft. Die Folgen dieser Überlastung bzw. des mangelnden Reizschutzes unterscheiden sich allerdings dramatisch zwischen Kindern und Erwachsenen. Wenn ein Erwachsener seine komplexen Verschaltungen im Vorderhirn zur adäquaten Lösung von Problemen eine zeitlang wegen Überlastung, Angst und Stress nicht benutzen kann, so bleiben sie ihm doch immerhin erhalten, und er kann später, wenn das Trommelfeuer vorbei ist, wieder darauf zurückgreifen. Ein Kind muß diese Verschaltungen jedoch erst entwickeln. Aber es kann sie nur dann in seinem Frontalhirn ausbilden, festigen und bahnen, wenn ihm auch die Möglichkeit geboten wird, diese komplexen Verschaltungen erfolgreich zur Lösung seiner Probleme und zur Bewältigung neuer Anforderungen zu nutzen. Dazu braucht jedes Kind – je kleiner es ist, um so mehr – Reizschutz (in Form sicherer emotionaler Beziehungen) und Orientierungshilfen (in Form kompetenter, Orientierung-bietender Erzieher und Erziehungshilfen, z.B. in Form von Ritualen, Geschichten, Märchen und Spielen). Findet ein solches Kind auch später niemanden, der ihm hilft, dieses Defizit zu überwinden, wird es sich auch dann, wenn es erwachsen geworden ist, nicht anders gegen Überlastung, Angst und Stress wehren können als durch sinnlose Hektik, sprunghafte Aufmerksamkeitswechsel und gelegentliche Wutausbrüche. Die ersten Anzeichen derartiger Fehlentwicklungen werden bereits früh sichtbar.

Bereits als Kleinkinder können solche Kinder nicht richtig spielen. Sie sind dauernd in Bewegung, leicht ablenkbar und finden nur schwer eine konstruktive Beziehung zu anderen Kindern. Oft sind sie sich keiner Grenzen und Gefahren bewußt. Sie platzen mit Antworten heraus, ohne das Ende einer Frage abzuwarten und unterbrechen andere ohne Hemmungen. Unfähig, sich längere Zeit auf eine gestellte Aufgaben zu konzentrieren, kommt es spätestens mit der Einschulung zu gravierenden Problemen. Am deutlichsten treten diese Defizite zutage, wenn die Anforderungen gesteigert werden, wenn Menge und Komplexität der zu verarbeitenden Information anwächst, wenn Geschwindigkeit, Ausdauer und Gründlichkeit gefordert werden.

Lehrer mit langjähriger Schulerfahrung berichten, dass die Schüler in den letzten Jahren allgemein unruhiger und nervöser geworden sind. Die Gründe dafür sind komplex. Einig sind sich die Fachleute, dass der zunehmende Medienkonsum (Fernsehen, Video, Computergames, Musik) die Kinder unruhig macht. Der Inhalt dieser Medienprodukte ist oft wenig sinnvoll. Ein weiterer Faktor, der nach Ansicht mancher Experten zur Unruhe vieler Kinder beiträgt, sind die „modernen“ Unterrichtsformen. Bei „offenem“ Unterricht ohne klare Führung werden problemanzeigende Kinder besonders anfällig für störende Verhaltensweisen, während dieselben Kinder bei „konventionellen“ Lehrern, die gut strukturiert unterrichten und klar anleiten, oft ruhiger und konzentrierter arbeiten können. Die Tatsache, dass mehr Knaben als Mädchen extrovertierte Verhaltensstörungen entwickeln, scheint u.a. auch mit der gegenwärtigen Rolle der Väter zusammenzuhängen. Viele Väter sind offenbar unfähig, ihren Söhnen brauchbare Orientierungen und Entwicklungsperspektiven zu bieten und vorleben zu können.

Es mag noch mehr Faktoren geben, die dazu beitragen, daß es heutzutage auffällig vielen Kindern nicht gelingt, hinreichend komplexe Verschaltungen in ihrem Frontalhirn herauszuformen und zu stabilisieren. Aber all diese Einflüsse zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit aus: Sie helfen dem Kind nicht, eine brauchbare Antwort auf die Frage zu finden, worauf es im Leben ankommt. Sie sagen entweder: „Auf alles!“ oder „Auf gar nichts“ oder sie behaupten gar, dass das keine vernünftige Frage sei. Für Kinder und Jugendliche sind alle drei Antworten gleichermaßen fatal. Sie brauchen so etwas wie ein fernes Ziel, eine Vorstellung oder wenigstens eine Vision davon, weshalb sie auf der Welt sind, wofür es sich lohnt, sich anzustrengen, eigene Erfahrungen zu sammeln, sich möglichst viel Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen. Wer keine Ahnung davon hat, wohin die Reise gehen soll, weiß auch nicht, was er sich besorgen und in seinen Koffer packen müßte. Das einzige, was Kinder und vor allem Jugendlichen unter diesen Bedingungen tun können, besteht darin, heute dies’ und morgen jenes nach ihrem eigenen Gutdünken in den Koffer zu stecken, bis dieses sinnlose Tun sie so sehr „anstinkt“, daß sie den ganzen Koffer angewidert in die Ecke werfen und „Null Bock“ haben.

Die Suche nach Orientierung, nach einer Sinngebung des eigenen Lebens ist dann zwangsläufig auch zu Ende. Was erhalten bleibt, ist der (natürliche) Hang zur Bequemlichkeit und zum Konsumieren. Das „Ich“ wird nun zum einzigen Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Wer dort angekommen ist, hat auch keine Lust mehr, erwachsen zu werden. Er „patchworked“ sich dann eben so durchs Leben. „Have fun!“. Diejenigen, die sich damit nicht so leicht abfinden können, versuchen sich noch eine Zeitlang zu wehren. „Macht kaputt, was euch kaputtmacht!“ wird für manche das einzige innere Leitbild, das für sie noch Sinn macht. Andere suchen sich eine Sekte. Und einige schließen sich zu dumpfen kahlköpfigen „Gemeinschaften“ in Springerstiefeln und Uniformen zusammen, um „Ausländer abzuklatschen“.

Viele Jugendliche finden ihre Orientierung, indem sie „gegen“ irgend etwas, gegen Globalisierung, gegen Umweltzerstörung, gegen Atomkraftwerke etc sind:

Aber leider braucht man, um gegen etwas zu sein, weitaus weniger komplexe Verschaltungen in seinem Gehirn, als wenn man sich für etwas einsetzt, für etwas, das man vielleicht sogar sehr lange und sorgfältig hegen und pflegen muß, bis es schließlich so stark ist, daß es allein weiterwachsen und sich entfalten kann (Hüther 2001) So etwas schafft man freilich nur dann, wenn man eine Vision hat, ein Ziel, für das es sich lohnt, all seine Kräfte einzusetzen, für das man bereit ist, auch auf manches zu verzichten, sogar Entbehrungen auszuhalten. Und wenn es ein besonders großes Ziel ist, dann braucht man sehr viele andere Menschen, die sich ebenfalls dafür begeistern lassen. Und wenn das Ziel so groß ist, daß es in ganz, ganz weiter Ferne liegt, dann muß man den Kindern, die man in die Welt setzt, von klein auf von diesem Ziel erzählen und, sobald sie danach fragen, muß man ihnen erklären, wie man am besten dorthin gelangt, und man muß ihnen zeigen, was sie tun können, um mitzuhelfen, daß dieses Ziel vielleicht irgendwann einmal tatsächlich erreicht wird.

Aus: Kinder suchen Orientierung (Hrsg. Karl Gebauer und Gerald Hüther) Walter-Verlag 2002 (erscheint im Herbst)

Sachbücher zum Weiterlesen:

  1. Hüther, H. Bonney: Neues vom Zappelphilipp. Walter Verlag Düsseldorf, 2002.
  2. Hüther, K. Gebauer: Kinder brauchen Wurzeln, Walter Verlag Düsseldorf, 2001.
  3. Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2001.
  4. Hüther: Biologie der Angst, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 1997.

Kurzvita:

Prof. Dr. G. Hüther ist Neurobiologe und leitet die Abt. f. Neurobiologische Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen. Schwerpunkte seiner gegenwärtigen Tätigkeit: Einfluß psychosozialer Faktoren und psychopharmakologischer Behandlungen auf die Hirnentwicklung, Auswirkungen von Angst und Stress und Bedeutung emotionaler Bindungen. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen und popularwissenschaftliche Darstellungen (Sachbuchautor). Mitbegründer von Win-future.de (Netzwerk Erziehung und Sozialisation) und Mitorganisator der „Göttinger Kinderkongresse“.