Eckpunkte der Diskussion

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Als erstes und in programmatischer Absicht geben wir euch einen Ausschnitt aus einem alten Aufsatz von William Stern, der sich in seinem “Psychologischen Labor” in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit den Ergebnissen der amerikanischen Forschung zur Intelligenzmessung, vor allem von Terman, konfrontiert sah. Auf der Basis seiner eigenen langjährigen wissenschaftlichen Erfahrung setzt er in schlichten Sätzen Gedanken zur Intelligenz auseinander, die noch heute die Bezugspunkte der Diskussion sein sollten.                                                                                                                                                           

” Was bedeuten nun aber diese Befunde! – Wenn wir bisher gegenüber den Versuchen, sie abzustreiten, ihre positive Bedeutung betonen mussten, so ist es doch nicht minder wichtig, auch die Grenzen dieser Bedeutung abzustecken.
Die Amerikaner neigen hier teilweise zu einer Überschätzung, indem sie meinen, im IQ eine Art Generalformel für die geistige Gesamtbeschaffenheit eines Menschen überhaupt gewonnen zu haben. Davon kann keine Rede sein. Mit dem IQ erfassen wir lediglich den Grad der reaktiven, allgemeinen Intelligenz, d.h. die Fähigkeit, mit bestimmten, von außen herantretenden Denkforderungen fertig zu werden. Dass der Grad dieser Fähigkeit zu den angeborenen und dauernden Kennzeichen einer Individualität gehört, wird durch die Konstanz des IQ wahrscheinlich gemacht; wir dürfen bei den einzelnen Menschen mit einem ihm charakteristisch zukommenden Niveau geistiger Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit rechnen. Aber:
N i v e a u   i s t   n i c h t   P e r s ö n l i c h k e i t ! Schöpferische Antriebe, spontane Interessen, Sonderbegabungen, qualitativ bestimmte Neigungen, Willenseigenschaften tragen in einer Weise zur Formung und Entwicklung des geistigen Individuums bei, die mit den, von der Intelligenzprüfung getroffenen Leistungen nichts unmittelbar zu tun haben braucht. Einige dieser Züge sind ebenfalls noch dem Experiment zugänglich, aber einer anderen Art des Experiments, als es in der allgemeinen Intelligenzprüfung geübt wird (man denke etwa an Berufseignungsprüfungen); andere Züge entziehen sich der experimentellen Feststellung überhaupt und sind nur durch Beobachtung und Deutung zu treffen. So bleibt die einzigartige und irrationale Struktur und die unveraussehbare Entwicklung jeder Persönlichkeit bestehen, auch wenn diese oder jene Seite an ihr, insbesondere die  H ö h e n l a g e  ihrer geistigen Reaktionmöglichkeit, auf einen rationalen und konstanten Maßwert gebracht werden kann.
Daraus ergeben sich nun auch Einschränkungen des  p r o g n o s t i s c h e n  Wertes des IQ. Er erlaubt in erster Linie  n e g a t i v e  Voraussagen von starker Wahrscheinlichkeit, nämlich Angaben der Schul- und Berufziele, die einem Individuuum unzugänglich oder nur unter unverhältnismäßigen Mühen und mit geringer Erfolgsaussicht zugänglich sind, weil sie ein höheres geistiges Niveau, als dem Individuum eigen ist, beanspruchen. Dagegen dlürfte der IQ für die positive Schul- und Berufsprognose eine geringere Bedeutung haben; denn die geistige Leistungsfähigkeit eines Menschen wird so stark von den anderen oben angedeuteten Seiten der Persönlichkeit mitbestimmt, dass die bloße Feststellung des Niveaus, auf dem sich seine Leistungen zu vollziehen vermögen, nichts weniger als eindeutig für seine Zukunft ist. Dasselbe Motiv, das uns in Hamburg veranlasst, bei der Schülerauslese stets die Intelligenzprüfung durch andere kriterien zu ergänzen, sollte auch die Verwertung des IÄQ als alleinigen prognostischen Hilfsmittels ausschließen. Gerade bei der Auslese der Hochbegabten enthält der IQ eine Gefahr, der man in amerika nicht immer entgangen zu sein scheint.* Er hebt diejenigen Individuen aus der Masse heraus, welche die stärkste  r e a k t i v e  Intelligenz haben; aber es ist durchaus nicht sicher, ja nicht einmal wahrscheinlich, dass diese Weltgewandtesten und “Klügsten” immer identisch mit denjenigen sind, welche die stärksten schöpferischen und führerischen Qualitäten haben.”
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* Diese Bedenken werden z.B. rege, wenn man hört, dass in Kalifornien die geistige Führerschaft der nächsten Generation mit Hilfe des IQ ausgelesen werden soll. Aus einer Viertelmillion von Kindern größerer Städte sind die 600 Intelligentesten – nämlich nur Kinder mit IQ >140 – herausgesucht worden; sie sollen weiterhin genau psychologisch beobachtet und pädagogisch betreut werden, weil man hofft, auf diese Weise die beste Gewähr für eine richtig ausgelesene geistige Oberschicht zu gewinnen.

 

Quelle:
William Stern und Lothar Weinert, 1925. Die Konstanz des Intelligenz-Quotienten und die Messung der geistigen Entwicklung. In:  Neue Beiträge zur Intelligenzprüfung (Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung Nr. VI, S. 146 -155 (152 -155)

 

 

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