IQ Test versus Testbiografie

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Ein Intelligenztest setzt eine optimierte Testsitution voraus (ausgeglichenes Befinden des Kindes) – dieses Schiffchen ist fragil

Eine Testbiografie entsteht mit dem ersten Wiederholungstest. Sie kann sich etwa so wie bei Arne lesen.

In einer dritten Klasse will ein Kind, Arne, nicht mehr am Unterricht teilnehmen; die anderen Kinder ärgern ihn, er reagiert aggressiv. Auf Anraten der Lehrerin wird Arne einer niedergelassenen Psychiaterin vorgestellt, die mit Meßergebnis 135 eine Hochbegabung feststellt und ein halbes Jahr mit dem Jungen therapeutisch arbeitet. Der Schule von Arne empfiehlt sie, Unterforderung zu vermeiden, ihm weitere oder andere Aufgaben zu geben, zusätzliche Herausforderungen zu bieten.  In der vierten Klasse geht es um die Schullaufbahnentscheidung; Arne hat sein Verhalten nicht geändert, die Leistungen schwanken im mittleren Bereich, er soll der Realschule zugewiesen werden.

Die Mutter erhebt Einspruch. Arne wird von einer Schulpsychologin getestet mit Ergebnis 115. Er geht auf die Realschule. Der Kontakt zu der Psychiaterin wird abgebrochen. Offenbar hat sie falsch getestet. Einige Monate später in der Realschule ist er bald wieder Zielscheibe für die anderen Kinder, es kommt zu ersten Impulsdurchbrüchen; die familiäre Situation spitzt sich zu.  Die Mutter verlangt entgegen der augenfälligen Plausibilität die Umsetzung in ein Gymnasium. Arne wird erneut, dieses Mal von einer Mitarbeiterin in einer kommunalen Erziehungsberatungsstelle, getestet;  Ergebnis 125. Das Ergebnis wird im Schulamt vorgelegt, die Schulentscheidung wird aber nicht revidiert; man erkenne das Ergebnis nicht an, denn es komme nicht von einem Schulpsychologen.  Ein Jahr später, in der 6. Jgst., verweigert Arne den Schulbesuch und wird in einer psychiatrischen Klinik vorgestellt. Hier wird er routinemäßig ein weiteres Mal getestet,  Ergebnis 105. Er wechselt in die Hauptschule. Ein Gutachten zur Feststellung des Sonderpädagogischen Förderbedarfs wird angeregt.

Man kann die Testbiografie bis zu diesem Zeitpunkt  so lesen: 135, 115, 125, 105. Die Nachtestungen zeigen keine klare Linie.

Mit Arnes Augen kann man die Testbiografie so lesen:

In der dritten Klasse war meine Mutter  unzufrieden mit mir, weil ich in der Schule nicht mehr so gut war. Sie hatte auch Mitleid mit mir, weil die Anderen mich immer geärgert haben.  Die Psychiaterin hat mich getestet und mir erklärt, weshalb ich Probleme in der Schule habe; ich wäre schneller als die Anderen und müsse versuchen, mehr Geduld zu haben.  Meine Mutter war danach sehr lieb zu mir. Bei dem zweiten Test war meine Mutter enttäuscht, weil ich schlechter als beim ersten Mal war.  Die Schulpsychologin hat ihr gesagt, dass die Erklärung der Psychiaterin nicht richtig war.  Meine Mutter hat mir aber gesagt, dass die Schulpsychologin nicht Recht hätte, wir könnten aber nichts dagegen machen. Obwohl ich große Angst hatte, noch schlechter zu werden, habe ich bei dem dritten Test mitgemacht;  ich war auch wieder besser, aber meine Mutter war dennoch wieder traurig danach.  Als sie das Ergebnis der  Schulpsychologin geschickt hat,  hat die zu ihr gesagt, dass der Test nicht stimmen könnte, die Frau in der Erziehungsberatung hätte auch nicht richtig getestet. Meine Mutter hat sich sehr aufgeregt.  Ich bin dann in der Schule sehr schlecht geworden und war richtig wütend auf die anderen Kinder, weil sie mich fertig machen, und auf meine Lehrer, weil sie uns nicht verstehen wollen. Meine Mutter hat dann nicht verhindert, dass ich in die Psychiatrie musste und in die Hauptschule runtergestuft wurde. Sie schreit oft oder weint, weil ich so ein Versager bin.

Ausschnitt aus dem Aufsatz “Wiederholungen von IQ-Tests”

 

 

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5 Kommentare… Share your views

  1. Das ist eine sehr traurige Laufbahn für den Schüler, welche sein ganzes Leben und seine emotionale Welt negativ beeinflusst. Schade um das Potential! Den Jungen trifft keine Schuld, es ist dieses Schulsystem. Lehrer sie sich mit Hochbegabung nicht auskennen und nicht auseinandersetzen wollen. Kinder die nicht gefordert und gefördert werden, verlieren ihr Potential und das kann man nicht mehr regulieren. Wenn das Lernzeitfenster für eine Sache geschlossen ist, kann man das leider nie wieder öffnen. So die Worte eines Professoren, dessen Vortrag ich mal beiwohnte.

  2. Vorab: Es ist durchaus denkbar, dass unterschiedliche Intelligenztests, auch bei korrekter Durchführung, innerhalb eines gewissen Streubereichs unterschiedliche Testergebnisse liefern, da sie unter Umständen andere Fähigkeiten/Faktoren testen. Keine zwei Intelligenztests sind im Aufbau identisch: Auch wenn der Durchschnitt der durch eine Testgruppe erbrachte Leistung gleich ist, können sich sehr wohl individuelle Leistungsunterschiede ergeben. Daraus ziehe ich den Schluss, dass man einen einzelnen Test nicht überbewerten darf.

    Natürlich ist das eine traurige Geschichte. Das Hauptproblem besteht aber meines Erachtens nicht in einer vermeintlich nicht erkannten Hochbegabung, sondern bei vielen anderen Faktoren, die für den Lernerfolg und das Wohlbefinden des Kindes (siehe Darstellung von Arne) wesentlich entscheidender sind. Die fehlende Akzeptanz durch die Mitschüler, eine übereifrige Psychiaterin, die vorschnell mit einer Standard-Erklärung antwortet, eine Mutter, die das Versagen ihres Kindes erklärt haben möchte und offenbar ein vermeintliches Schul-Versagen ihres Sohnes nicht akzeptieren will und kann. Hier stellt sich für mich die Frage, ob nicht die über-ehrgeizige Mutter ein viele grösseres Lernhemmnis darstellt und die Hauptursache für das Schulversagen ist.

    Man kann nicht immer eine sogenannte Hochbegabung für Alles und Jedes verantwortlich machen. Eine echte Hochbegabung schafft sich, sofern möglich, selbst die notwendige (Lern-)Umgebung, die es braucht, um sich zu fördern und fordrn, auch ausserhalb der Schule. Man macht viel zu gern den Lehrer zum Sündenbock dafür, dass Kinder angeblich zu wenig gefördert werden und in der Schule scheitern. Die überwiegende Mehrheit der LehrerInnen macht auch unzureichenden Bedingungen einen guten und sehr guten Job!

    • Dein Kommentar weist darauf hin, dass um Hochbegabung eine heikles Feld entstanden ist, in dem Eltern, Lehrkräfte und Therapeuten mehr oder weniger verunsichert oder durchsetzungsbereit agieren. Das verstärkt das Risiko, dem ein Kind ausgesetzt ist, das außerhalb der schützenden Mitte (von Leistungsfähigkeit, Engagement, sozialer Bindungsfähigkeit und vielem Weitern) lebt. Oft hängt es von Zufällen ab, ob es über schwierige Situationen hinweg kommt oder sich “verläuft” – und dann manchmal auch gründlich verläuft, so dass sich ernsthafte Probleme in der Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung ergeben. Immerhin schaffen es mehr als 80 % der hochbegabten Kinder, sich mit ihrer Schul- und Familiensituation zu arrangieren.
      Zu den Intelligenztests: Die Normierung der verschiedenen Tests stellt sicher, dass ihre Ergebnisse hoch korrelieren. Der erwähnte Streubereich wird vor allem dadurch vergrößert, dass die subjektive Situation des Kindes vor und im Test zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Nach Anweisung der Testautoren soll ein Kind vertrauensvoll und frei von Druck in den Test gehen, um sein Potential ohne Einschränkungen einsetzen zu können. Es geht ja um sein “Mögliches”, nicht um seine Leistung unter Stress. Nach meiner Erfahrung wird diese notwendige Bedingung für ein gültiges Ergebnis oft verfehlt.
      Ich stimme Dir zu, dass die Lebenssituation des Kindes außerhalb des Leistungsthemas – Unterstützung in der Familie, Umgang mit Gleichaltrigen auch in der schulischen Umgebung – für den Erfolg des Lernens (nicht nur) eines hochbegabten Kindes grundlegend ist. Die gängigen Vorstellungen über Fördermaßnahmen wie Zusatzangebote oder Springen, Wettbewerbe und Hochbegabten-Camps sind dem gegenüber nachrangig. “Über-ehrgeizige Mütter” sind ein Reizthema, sicher gibt es solche. Ich erlebe weit häufiger verunsicherte Eltern, die sich selbst schuldig fühlen, nicht mehr weiter wissen und in Verhaltensweisen geraten, die ihre Probleme weiter verschärfen. Dazu gehört auch die Neigung, das Verhalten ihrer Kinder ins Pathologische zu interpretieren, um über den Sammelnamen einer psychischen Störung (am häufigsten zur Zeit Asperger) vermeintlich eine Ursache zu erkennen, die sie selbst entlastet.
      Leider findet nicht jedes hochbegabte Kind zurück zu angemessener Leistung und sozialer Integration. Etwa 10 % Prozent scheitern in ihrer Bildungslaufbahn. Die wechselseitigen Schuldzuweisungen zwischen Elternhaus und Schule sind dabei nur ein Indikator dafür, dass die Passungsprobleme der Hochbegabten innerhalb des schulischen Regelsystems nur durch den individuellen Einsatz der Beteiligten zu bearbeiten sind. Solange der Fortschritt einer ganzen Klasse durch schwieriges Verhalten eines einzigen Kindes gefährdet werden kann, solange bei der Förderung eines einzelnen Kindes die Zeit für die Zuwendung zur Gesamtgruppe verbraucht wird und umgekehrt – solange halte ich die Frage nach dem individuellen Schuldigen – ob Eltern oder Lehrkräfte – für falsch gestellt. Der Ausgleich bei den Passungsproblemen der Hochbegabten ist eine Frage des schulischen Systems. Vorschläge für eine weiterreichende Individualisierung des Lernens und ihre schulpädagogische Ermöglichung gibt es reichlich. Nicht die einzelnen Lehrerinnen und Lehrer sind die “Sündenböcke”, sondern das Beharrungsvermögen des Regelsystems gerade im gymnasialen Unterricht. Vielleich ist dieser Hinweis auf die notwendige Anpassung auch schon so weit verbraucht, dass er nur noch als eine von vielen Entlastungsroutinen aufgenommen wird, statt auf eine akute Handlungsnotwendigkeit zu verweisen.

      • Im Grossen und Ganzen gebe ich Ihnen absolut recht. Dennoch glaube ich, dass das Thema Hochbegabung im Allgemeinen zu emotional behandelt und zu stark dramatisiert wird. Sie schreiben ja selbst, dass mehr als 80% der Hochbegabten sich arrangieren können. Ich kann Ihnen versichern, dass über-eifrige Eltern/Mütter im Lehreralltag gar nicht so selten sind, die zu Gunsten ihrer Kinder nach Klausuren mit dem Lehrer um Viertelnoten feilschen, wegen “fehlender” Übungsmöglichkeiten der Prüfungsaufgaben oder vermeintlich “harten” Prüfungsbedingungen oder vermeintlicher “Stressfaktoren” während der Prüfung. Nicht selten werden dabei (mitunter offiziell gar nicht diagnostizierte) psychische Faktoren wie ADHS, Hochbegabung, Legasthenie und anderes geltend gemacht. Solche teilweise sehr ermüdenden und zeitaufwändigen Auseinandersetzungen erschweren sicherlich eine objektive Diskussion zwischen Lehrer und Eltern/Schüler, dort wo sie möglicherweise notwendig und angebracht sein könnte.

        • Das beschriebene Verhalten von Eltern hat manche gutwilligen Lehrerinnen und Lehrer verstimmt und davon abgehalten, sich innerhalb ihrer Schulen für die Förderung von Hochbegabten einzusetzen. Wer die Erfahrung einer solchen Auseinandersetzung hinter sich hat, ist kaum mehr zu öffnen für die vielen anderen Eltern, die nicht mehr weiter wissen und mit ihren Familien in ernst zu nehmenden Schwierigkeiten sind. Um so dankbarer sind wir dafür, dass es trotzdem immer wieder Lehrkräfte gibt, die sich den betroffenen Kindern zuwenden und manchmal schon allein durch diese Geste zur Entlastung beitragen.

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